Rassismusvorwürfe gegen Kant

Kritik der politisch korrekten Vernunft

Von Jan Küveler Chefkorrespondent Feuilleton

Veröffentlicht am 16.06.2020

Demonstranten der Bewegung "Black Lives Matter" schänden zurzeit in aller Welt die Denkmäler. Geht es nach zwei deutschen Historikern, ist der Philosoph Imanuel Kant als Nächster dran.
Wer so etwas fordert, hat den Geist der Aufklärung nicht verstanden.

Von Sklavenhändlern über Entdecker und Politiker zu Philosophen - das ging schnell. Vor wenigen Tagen erst schubsten "Black Lives Matter"-Bewegte im britischen Bristol die Statue des Sklavenhändlers und städtebaulichen Mäzens Edward Colston (1636-1721) ins Meer. Dann stürzte in Minnesota, und zwar nicht von alleine, eine Statue von Christoph Kolumbus, sodann fand sich in Hamburg-Altona der gute alte Bismarck symbolisch kunstblutbespritzt, und jetzt soll es Immanuel Kant an den Kragen gehen - ob mit oder ohne Statue ein Säulenheiliger der Aufklärung und der Idee des Universalismus, des gleichen Rechts für alle Menschen, das, wie oft und mit gutem Grund behauptet worden ist, jegliche Emanzipationsbestrebungen überhaupt erst möglich macht.

Bereit für den Denkmalsturz? Immanuel Kant (1724 bis 1804)
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Im "Deutschlandfunk" hat der Historiker Michael Zeuske, Professor in Bonn und Autor einer "Menschheitsgeschichte" der Sklaverei, gefordert, im Zuge der Aufarbeitung historischer Schandtaten Kant (1724-1804) nicht links liegen zu lassen. "Der hat in seinen anthropologischen Schriften den europäischen Rassismus mitbegründet", findet Zeuske. Und Zeuskes Fachkollege Jürgen Zimmerer, seit 2014 Leiter der Forschungsstelle "Hamburgs (post-)koloniales Erbe" an der dortigen Uni, hat im "ARD-Morgenmagazin" empfohlen, die Statuen zumindest auf den Kopf zu stellen, "um unsere Sehgewohnheiten herauszufordern". Diese leicht hilflose Formulierung kennt man eher von avantgardistisch gesinnten Dramaturgen. Die Frage liegt nahe, was das ganze Theater soll. Und warum, fragt man sich auch, kommen solche Forderungen ausgerechnet von Historikern? Ist es nicht eine Binse der Disziplin, Persönlichkeiten der Geschichte nach den Maßstäben ihrer Zeit zu messen und nicht nach unseren? Bekanntlich war selbst Abraham Lincoln, der für sein Streben, die Sklaverei abzuschaffen, sterben musste, ein Rassist durch und durch, dem es in erster Linie darum ging, den Bürgerkrieg zu beenden. "Wenn ich die Union retten könnte, ohne auch nur einen einzigen Sklaven zu befreien - ich täte es", lautet ein berühmter Satz in einem Brief. Lincoln sah schlicht die kriegsbedingte Notwendigkeit, die befreiten Sklaven als Soldaten gegen die Südstaaten einzusetzen.

Und Kant? Ja, der friedfertige Königsberger, der sich zum Denken eine eigenartige Mütze aufsetzte (Aluminium war zu seinen Lebzeiten noch nicht entdeckt), war tatsächlich nicht nur der wohl wichtigste Vordenker all dessen, was wir heute im Konzept des Westens oder des Abendlands fassen (mit Hegel auf dem knappen zweiten Platz), sondern auch ein schlimmer rassistischer Finger (hier ist Hegel übrigens womöglich die Nummer eins). Kants eher nebenbei in den Vorlesungen zur Anthropologie enthaltene Rassentheorie schaffte es im Jahre 1800 sogar ins Conversationslexikon, den späteren Brockhaus. "Wenn wir dem Urheber der kritischen Philosophie folgen", heißt es da, "so lassen sich gegenwärtig nur vier besondere Menschenracen annehmen: nehmlich die Race der Weißen, der gelben Indianer, der Neger, der kupferfarbig-rothen Amerikaner." Zwei Jahre später präzisiert Kant diese Taxonomie in seiner "Vorlesung über Physische Geographie": "Die Menschheit ist in ihrer größten Vollkommenheit in der Rasse der Weißen. Die gelben Indianer haben schon ein geringeres Talent. Die Neger sind weit tiefer, und am tiefsten steht ein Teil der amerikanischen Völkerschaften."

Afrika sei "gar kein geschichtlicher Welttheil": Hegel doziert
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Hegel, um den kleinen Sprung zu wagen, hatte noch darüber sinniert, dass sein größtes philosophisches Steckenpferd, der Weltgeist, wie die Sonne im Osten aufgegangen sei, nun aber gottlob über Europa im Zenith stehe. In der "asiatischen Race" habe der Weltgeist sozusagen verschlafen gegähnt, weshalb der Mensch dort "noch nicht zum Bewußtsein seiner Persönlichkeit" käme. Das "Orientalische" müsse deshalb, so der herzlose Hegel, aus der Philosophiegeschichte ausgeschlossen werden. Bei den "ursprünglichen Amerikaner" handele es sich um ein "verschwindendes schwaches Geschlecht", und ihre "Cultur" - nur "eine ganz natürliche" - musste untergehen, "sobald der Geist sich ihr näherte". Und was dachte Hegel über Afrika? Es sei gar kein "geschichtlicher Welttheil", sondern "jenseits des Tages der selbstbewußten Geschichte in die schwarze Farbe der Nacht gehüllt", der "Neger" habe so gar "nichts an das Menschliche Anklingende", sei somit "keiner Entwickelung und Bildung fähig". Und wenn er einem europäischen Sklavenhändler ins Netz gehe, könne er dankbar sein, denn so entgehe er immerhin "dem afrikanischen Princip, Menschen zu verzehren".

Kant sah das ähnlich. Die "Race der Weißen" verfüge allein über "alle Triebfedern und Talente". Die Europäer und die amerikanischen Siedler seien die einzigen, "welche immer in Vollkommenheit fortschreiten". Kultur sei "immer von den Weißen bewirkt worden und die Hindus, Amerikaner, Neger haben niemals daran Theil gehabt". Darüber hinaus war Kant auch noch überzeugter Antisemit. Die Juden ("Palästiner") galten ihm gewissermaßen als die Weißen unter den Orientalen, "Vampire der Gesellschaft" und "Betrüger der Nation". Im direkten Vergleich klingt das sogar noch härter, weil es Bösartigkeit unterstellt, wo bei den Angehörigen fremder "Racen" Kulturlosigkeit, Unfähigkeit, Dummheit und Schwäche genügen. Dafür können sie ja nichts und müssen, in einem frühen Vorläufer der Idee, die Kipling später "die Bürde des weißen Mannes" nennen sollte, vom starken, schlauen, vom Weltgeist beglänzten Europäer unter seine Fittiche genommen werden.

Wenn so die Anklage lautet, wird eine Verteidigung es schwerhaben. Aber muss es eine Anklage sein? Müssen wir unser Bild von Kant deshalb derart umdrehen, dass demnächst die Sockel seiner Standbilder gen Himmel weisen? Müssen wir auch Hegel stürzen, den großen naturwissenschaftlichen Systematiker Linn, der seine Ordung der menschlichen Welt von Anfang an mit (Haut-)Farben kennzeichnete und übrigens erst in der erweiterten zehnten Auflage von 1758/59 die Chinesen gelb nannte (vorher firmierten sie als "dunkel")? Et cetera pp. Die Liste der Sünder ist endlos.

Oder reicht es, sich von Kants Beispiel - wie dem Beispiel zahlloser Denker der Historie - eine Lektion in der grundlegenden Ambivalenz der Welt erteilen zu lassen? Noch 1951 behauptete Hannah Arendt, die "Rassen" Afrikas und Australiens zeugten von einer "katastrophenhaften Einförmigkeit ihrer Existenz" und seien "bis heute die einzigen ganz geschichts- und tatenlosen Menschen, von denen wir wissen, die sich weder eine Welt erbaut noch die Natur in irgendeinem Sinne in ihren Dienst gezwungen haben". Von einem Arendt-Denkmalsturz hat man noch nicht gehört - wohl nicht nur, weil sie so häufig als Galionsfigur des Antitotalitarismus herhalten muss, sondern vor allem, weil es von ihr (noch) keine Denkmäler gibt.

Wer etwas über die Veränderbarkeit von Gedankenräumen erfahren will, sollte Foucault lesen. Eine der Hauptfiguren in seinem philosophischen Blockbuster "Die Ordnung der Dinge" ist besagter Linn. In einer atemberaubenden Diskursanalyse beschreibt Foucault die Entstehung und den Wandel seines Erkenntnissystems, das sich wie eine Matrix, aber auch wie Gitterstäbe über die Welt legte.

Und der Begriff "episteme", der bei Foucault die Grenzen des jeweils historisch Denkbaren beschreibt, geht eben auch auf Kant zurück. In seiner Epistemologie genannten Theorie von der Erkenntnis postuliert gerade Kant, dass die begrenzte Perspektive des denkenden Menschen im Erkenntnisprozess nicht ausgeklammert werden dürfe. In der Vorrede zur ersten Auflage der "Kritik der reinen Vernunft" schreibt er: "Die menschliche Vernunft hat das besondere Schicksal, durch Fragen belästigt" zu werden, "die sie nicht abweisen kann, denn sie sind ihr durch die Natur der Vernunft selbst aufgegeben." Indes übersteigen diese Fragen "alles Vermögen der menschlichen Vernunft", wodurch sie "ohne ihre Schuld", in endlose Streitigkeiten mit sich selbst gerät. Die Idee des Universalismus ist ja wirklich universal; nur, wer zu den Menschen zählte, das hat sich in den vergangenen Jahrhunderten als verhandelbar erwiesen.

Hielt nicht viel von Schwarzen: Hannah Arendt
Quelle: Getty Images

Das Denken, dessen Systematisierung Kant im Zuge der europäischen Aufklärung vorangetrieben hat, ist ewig unfertig, fehlerhaft, prozessual. Es wird ein Werkzeug geschaffen, zu dessen primären Zwecken die Arbeit an sich selbst gehört. Wie sehr es, wiewohl gut gemeint, in sein Gegenteil, das Böse, umschlagen kann, ist nicht zuletzt in der Philosophiegeschichte unter dem Hashtag "Dialektik der Aufklärung" gut dokumentiert. Fatal wäre, dieses mühsam gewonnene Denken in Ambi-valenzen aufzugeben zugunsten eines Manichäismus, der nichts kennt außer der Verehrung von Heiligen oder der Verachtung von Teufeln. Sonst bleibt es irgendwann nicht beim Stürzen von Statuen, diesen "unglücklichen Mischlingen von Gottheit und Stein", wie Heinrich Heine sie spöttisch-melancholisch nannte, sondern es erwächst handgreifliche Gewalt gegen Menschen, wo etwas anderes herrschen sollte - Verständnis, Verzeihen und das ruhige Zutrauen, es in Zukunft besser zu machen.


Quelle: welt.de vom 16.06.2020


Politische Korrektheit

Kant, der alte Rassist

Veröffentlicht am 15.06.2020

Von Norbert Bolz

Emeritierter Professor für Kommunikationstheorie und Medienwissenschaften. Sein neues Buch "Die Avantgarde der Angst" ist soeben bei Matthes & Seitz erschienen.
Wir erleben Phase II der Politischen Korrektheit:
Nach Säuberung der Sprache hat ein fanatischer Bildersturm begonnen.
Norbert Bolz (r.) verteidigt Immanuel Kant gegen die Tugendwächter
Quelle: Universal Images Group via Getty Images, picture alliance / dpa/Horst Galuschka

Die Kunst der Skandalisierung ist unerschöpflich. In der Anthropologie Kants gibt es ein paar Bemerkungen, die jeder kennt, der Kant studiert hat. Nach den Maßstäben des Zeitgeistes könnte man sie als rassistisch bezeichnen. Dass man daraus heute den Funken der Medienaufmerksamkeit schlagen kann, weiß man, seit ähnliche Vorwürfe Shakespeare und Mark Twain getroffen haben. Hegel hat den Krieg gelobt, Nietzsche die Notwendigkeit der Sklaverei proklamiert, der hypersensible Walter Benjamin hat das Wort "Zigeuner" benutzt. Man könnte die Proskriptionsliste skandalöser Denker ins Unendliche verlängern. Für den heutigen Blockwart des Denkens gibt es vor 1968 eigentlich keinen großen Geist, dem man nicht irgendeine rassistische, militaristische oder frauenfeindliche Bemerkung nachweisen könnte.

Was hier geschieht, könnte man Tribunalisierung der Vergangenheit nennen. Die Politische Korrektheit greift auf das Denken über und tief in die Geschichte zurück. Dabei konzentriert sich der Hass auf die alten weißen Männer nun auf die alten weisen Männer. Das ist seit Mao sicher die extremste Form der Kulturrevolution. Konsequent ersetzen die Tugendwächter, das Denken durch Unduldsamkeit und Selbstgerechtigkeit.

Der Opferstatus macht mit seinem Pathos der Empörung jede Argumentation überflüssig. Dabei begnügen sich die neuen Jakobiner längst nicht mehr mit sprachhygienischen Maßnahmen. Wir erleben die Phase II der Politischen Korrektheit: fanatischen Bildersturm. Als wäre die Vergangenheit noch unabgeschlossen, wird Geschichte umgeschrieben. Kinderbücher werden gereinigt oder zensiert; eine gendergerechte Bibel befreit Gott von dem Makel, ein Vater zu sein; Straßen werden umbenannt und Statuen gestürzt. Die Taliban sind unter uns.

In Amerika ist das Wort "woke" zur Kennmarke dieser Bewegung geworden. Gemeint ist, dass die moralistischen Maßstäbe der "Schneeflocken" auch an die Vergangenheit angelegt werden. Diese Woke- und Cancel-Kultur ist die autoritärste, die wir seit dem Zweiten Weltkrieg erlebt haben. Man will nicht mehr verstehen, sondern aburteilen. So ist Zolas "J'accuse" zur Weltuniform der politischen Agitation geworden. "Rassistisch" funktioniert dabei weltweit als Passepartout-Wort, das den neuen Jakobinern den Zugang zu Medien und Politik eröffnet. Und das gilt leider auch für Wissenschaftler, die auf fröhlich sprudelnde Forschungsgelder setzen.

Dass nun auch Kant, der Philosoph der Aufklärung, zum Opfer der Tribunalisierer geworden ist, sollte jedem deutlich machen, dass hier das Schicksal des okzidentalen Rationalismus auf dem Spiel steht. Man kann Kant "zur Debatte" stellen, ohne ihn zu lesen. Denn Kant zu lesen, ist sehr anstrengend - und das kann man sich jetzt mit dem besten Gewissen ersparen. Das ist sicher ein wichtiges Motiv der geistigen Taliban: die Last der großen Geister zu entsorgen. Die Tribunalisierung der Vergangenheit hat nämlich eine bedeutsame Entlastungswirkung. Man klebt dem großen Geist ein Label an und muss sich dann nicht mehr mit ihm beschäftigen. "Zur Debatte stellen" ersetzt das Studieren.


Quelle: welt.de vom 15.06.2020